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Miquel Rayó

Deutsch [Dama Blanca, merla negra]

Zu dieser Zeit wuchs also die Stadt. Straßen wurden asphaltiert, neue Häuser errichtet, manchmal verstreut über die schon längst verlassenen, unfruchtbaren Felder. Der alte Zug mit seinen Holzwaggons fuhr an den letzten Mandelbäumen vorbei auf die Berge zu, die sich hellblau am Horizont abzeichneten. Wenn der Zug vorbeifuhr, flogen die Vögel weg, und Francesc konnte sie demnach für geraume Zeit nicht mehr zeichnen.

»Also gut: Das wäre es für heute.«

Er faltete die Blätter zusammen, steckte sie in die Mappe und knüpfte sie mit den Bändern zu.

»Genug. Willst du etwas essen?«

Und während ich aß, brachte er seiner Mutter das Essen, geduldig, liebevoll. Er machte ein Püree für sie und brachte es ihr in einem Tonschüsselchen ins Zimmer, wo sie den ganzen Tag lang verbrachte. Er flößte es ihr Löffel für Löffel ein.

»Schmeckt doch gut, Mammilein? Ist doch wirklich gut?«

Francesc musste manchmal mit Kraft, aber nicht gewaltsam die zusammen gepressten, starren Lippen der Frau auseinanderdrücken.

»Sehr gut schmeckt es«, gab er sich selbst zur Antwort.

Ich spähte vorwitzig mit offenem Mund durch die halb geöffnete Tür.

An all das erinnerte ich mich, als ich die alte Mappe aufschlug.

Mein Sohn schlief schon am Tisch, das Köpfchen auf die verschränkten Arme gelegt. Und meine Frau hob ihn umsichtig und liebevoll vom Stuhl auf, um ihn ins Bett zu tragen.

»Lass mich das machen«, sagte ich.

»Bleib sitzen«, erwiderte sie mir lächelnd: »Nun bin ich dran. Du bleib nur hier mit deinen Erinnerungen.«

»Danke«

Damals tauchte die Amsel im Haus von Francesc auf. Es war ein unansehnliches, mit grauem Flaum bedecktes Kücken, ein lärmendes Vogeljunges, das komisch übertrieben herumzappelte.

»Schau, was ich hier habe«, sagte Francesc, als er mich vor der Tür seines Hauses antraf. Ich kam öfter vorbei, um seine Zeichnungen anzusehen, und vor allem, um die geheimnisvolle, weiße, in ihr Zimmer zurückgezogene Frau zu betrachten.

Francesc trug an diesem Tag etwas wohlbehütet an seine Brust gedrückt.

»Ich hab’s im Garten gefunden. Auf dem Boden. Eine halbe Stunde später hätten die Katzen nicht eine Feder übrig gelassen.«

Er lächelte glücklich. Er mochte die Vögel. Ihre vielfältigen Formen begeisterten ihn, wie er sagte, und auch die Farben ihres Gefieders, ihr Gezwitscher. Er zeichnete sie, fütterte sie aber auch, betrachtete ihre Nester unter den Dachziegeln, in den Zweigen der Büsche im kleinen Hof seines Hauses, in den Bäumen der angrenzenden Gärten, an den letzten Steinmauern, die von der Stadt noch nicht verschlungen worden sind.

»Und wie mager es ist.«

Und während er das sagt, lässt er mich zwischen seinen Fingern die Amsel sehen, ein Kücken noch, mit einem gierig aufgesperrten gelblichen Schnabel.

»Es hat Hunger«, sagte ich.

»Das haben die Kücken immer«, meinte Francesc, ganz zufrieden mit diesem Knäuel Leben in seinen Händen.

»Weißt du, was wir tun? Du suchst kleine Schnecken im Hof, Käfer und Würmer. Ich hole einen Käfig für die Amsel.«

Im Nu hatte ich eine Hand voll Tierchen beisammen. Und Francesc hatte schon einen alten Schuhkarton gefunden, in den er Löcher gemacht hatte, damit der kleine Vogel atmen konnte.

»Jetzt wirst du staunen.«

Er öffnete die Schachtel. Die Amsel glich in diesem schon voll geschissenen Karton einem Häufchen zersausten Flaums, und sie öffnete ihren Schnabel, als wollte sie die Welt verschlingen. Francesc zerdrückte die Schale der kleinen Schnecken, die ich ihm reichte, und riss ihnen die Fühler aus. Dann steckte er sie eine nach der anderen in den übermäßig aufgesperrten gierigen Schnabel des Vogeljungen, der alles augenblicklich verschluckte.

»Und was für einen Hunger es hat! Jetzt die Käfer, gib sie mir.«

Auch die Käfer, einer nach dem anderen zerquetscht, landeten im Kropf dieses gefräßigen Vogeljungen.

»Es hat gewiss seit Stunden nichts gegessen«, meinte Francesc beeindruckt. Die ganze Zeit über würdigte er mich keines Blickes; er hatte nur Augen für das Vogeljunge, die Nahrung, die er ihm gab, für die Tierchen, die er aus meiner Beute auswählte.

»He«, sagte er schließlich zu mir, »jetzt bist du dran.«

Das Kücken fraß weitere Tierchen von meinen Fingern, da einen Wurm, da einen Käfer, da eine weiße, kleine und feuchte Schnecke. Langsam ließ seine Gier nach. Und wir sahen, wie seine dunklen Augen allmählich zufielen. Das Amseljunge zitterte vor Behagen. Auf dem Boden der Schachtel aufgeplustert, gemütlich warm und mit geschlossenem Schnabel, endlich gesättigt.

»So ein Glück«, sagte Francesc und fügte gleich hinzu: Pass auf, dass es nicht entwischt, ich hole schnell meine Stifte.

Die ersten Zeichnungen von der schwarzen Amsel waren auch in der alten Mappe von Francesc. Diese ersten, hastig skizzierten Linien, nur Andeutungen von Formen, von Bewegungen; dicke und feine Striche, grau, Schatten.

Die wunderschönen Zeichnungen von Francesc, als er an jenem Tag so stolz auf seinen Fund war.

Zeichnungen, die mich unvermutet, als ich sie wieder betrachtete, in jene wunderbaren Jahre zurückversetzte.


(Aus Dama Blanca, merla negra, 2004)

Aus dem Katalanischen übersetzt von Theres Moser ©


Amb el suport de:

Institut d'Estudis Baleàrics