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Pep Albanell (Joles Sennell)

Deutsch [Verlorene Musik]

Die Toten begraben

In schwarzen Anzügen vor dem Kirchenportal versammelt fuhren schließlich wir männliche Familienmitglieder zum Friedhof. Vorne der Leichenwagen mit der Großmutter, von Blumen bedeckt und voller Trauerflor, der im Wind wehte, so dass die silbernen auf die schwarzen Bänder gestickten Buchstaben leserlich wurden. Dahinter befanden sich in drei oder vier Autos meine Geschwister und ich, meine Cousins, Onkeln und der Mann einer Nichte von Großmutter, der während der ganzen Fahrt nicht zu husten aufhörte. An den Begräbnisfeierlichkeiten hatten die Verwandten und Freunde meiner Eltern teilgenommen, unsere Freunde, von denen einige Großmutter sehr mochten, mit der sie, wenn sie vorbeischauten oder zum Essen blieben, lange Gespräche geführt hatten. Es waren auch Freunde meines Großvaters gekommen, wenige, weil sie schon nicht mehr außer Haus gingen, und außerdem waren die meisten nach und nach in den letzten Jahren verstorben.

Großmutter ereilte der Tod in hohem Alter und ohne dass sie irgendein Leiden gehabt hätte. Das Herz war kräftig, die Leberfunktion perfekt und auch der Magen ohne Probleme. Die Beine..., ja die Beine waren das einzige, worüber sie klagte. Aber an den Beinen stirbt niemand. Sie starb wegen gar keinem Leiden, sondern aus Altersschwäche, Müdigkeit und Lust, sich endlich wieder zu ihrem Ehemann, meinem Großvater, zu gesellen, der gestorben war, als mein Vater noch keine zwei Jahre zählte.

Zwischen dem Tod von Großmutter und dem ihres Mannes waren fünfzig Jahre vergangen. Fünfzig Jahre, in denen sie immer an ihren damals jungen Ehemann gedacht hatte, der ganz plötzlich in ihren Armen an einem Herzanfall gestorben war, während er unter dem Johannisbrotbaum schaukelte, auf dem Anwesen, das er vor kurzem von seinem Vater geerbt hatte. Fünfzig Jahre der Erinnerung an ihn, von ihm zu sprechen, ihn zu idealisieren, ihn immer im Gedächtnis habend, sowohl im Haus als auch in ihrem Leben. Ihren Erzählungen zufolge war er sehr groß, sah gut aus, etwas ernst, aber so liebenswürdig, so vornehm..., der Vornehmste der ganzen Familie. An seiner Seite wirkte Eustaqui wie ein Bauer. Er war neugierig gewesen, stets gut und für jede Gelegenheit passend gekleidet. Von einer natürlichen Eleganz, die nichts zur Schau stellen wollte. Er war weder eitel noch eingebildet, wusste aber die Formen zu wahren, sowohl in der Kleidung wie auch im Umgang.

Auf dem Nachttischchen hatte Großmutter ihr Hochzeitsfoto stehen. Er in Schwarz mit einem englischen Frack aus Wolle, der, wie sie sagte, sehr weich und fein war, leicht und dennoch warm. Das Hemd mit perfekt symmetrischen Kragenspitzen. Wir kauften das Vorhemd für den Frack in London, sagte sie, aus Zellstoff, das sich waschen ließ und ausgedehnt viel besser als gestärkt aussah. Sie in einem Kleid aus Organdy, weiß natürlich, und einer langen Schleppe, die der Photograph ihr um ihre Füße herum zusammengerafft und geöffnet hatte wie einen Fächer. Ein Strauß weißer Lilien in der rechten Hand, dessen kleine weiße Schleifen aus Satin hinunterfielen. Sie sahen wunderschön aus, vielleicht weil sie so verlegen drein sahen.
Der Großvater wurde mit seinem Hochzeitsanzug begraben, den er nur einmal tragen hatte können. Nun trug er ihn für die ganze Ewigkeit. Das hatte Großmutter entschieden. Er sollte mit dem Hochzeitsanzug begraben werden, und ich dann mit meinem Brautkleid. So beschloss ich es, als sie deinen Großvater einkleideten. Mit dem Schleier und der Schleppe und einem weißen Lilienstrauß, den ich in der Hutschachtel im Schrank aufhebe.

Der Kleiderschrank war aus dunklem Holz, riesig, mit einem geschliffenen Spiegel, der mir immer sehr groß erschienen war, mit unbeschreiblich phantasievollen Verzierungen. Dort bewahrte sie ihr Hochzeitskleid auf, den Schleier, den Unterrock, die Schuhe, die Seidenstrümpfe, die Spitzen, den Satin, die Schleifen, den einfachen und wunderschönen Schmuck, den sie am Tag ihrer Hochzeit getragen hatte. Ich glaube, dass Großmutter, die Bücher mochte, Great Expectations von Charles Dickens gelesen haben musste. Denn mich hatte sie immer an die unglückliche Miss Havisham erinnert, die schon alt geworden immer noch im Brautkleid auf den Verlobten wartete, der nie kam.

Das Wetter war schön. Die Frühlingssonne ließ das dichte Grün der Zypressen glänzen. Wir Enkel trugen auf unseren Schultern den Sarg der Großmutter bis zur Familiengruft; ein Mausoleum, das mein Urgroßvater kaufte, damit die ganze Familie unter demselben Dach ihre letzte Ruhe finden würde. Durch ein schmiedeeisernes, mit einem Hostienkelch verzierten Gitter, das sich allüberall befand, betrat man einen kleinen Saal mit einem Altar, unter dem Großvater begraben unter einem Grabstein, in den sein Geburtsdatum und der Tag seines Ablebens eingemeißelt waren, und der noch Platz ließ, damit man neben seinen Namen den seiner Frau und ihre Daten setzte. Unten, genauso durch ein Gitter mit denselben Ornamenten wie vorher, stieg man in eine Krypta, in der die Überreste der Familie ruhten.

Wir setzen den Sarg von Großmutter an einer seitlichen Bank der Kapelle ab, während der Totengräber vorsichtig die Marmorplatte aufhob. Der Sarg war unversehrt. Feiner Staub bedeckte ihn, der auf subtile Weise das Kruzifix auf dem Deckel einhüllte und die nackten Formen des Bildes erahnen ließen. Zwei Männer hoben den schweren Sarg heraus, der mehr als fünfzig Jahre unter der schweren Marmorgrabstein gelegen war, wischten den Staub weg und öffneten die Verschläge die den schweren Sargdeckel hermetisch verschlossen.

Der Großvater, den ich nie gekannt hatte, lag unversehrt darin. Die Jahre, die seit seinem Tod vergangen waren, hatten ihm seine Jugend bewahrt. Er sah in der Tat wie ein junger Mann von sechsundzwanzig Jahren aus, schmächtig und blass, mit einer schmalen Nase und ganz dünnen Lippen, von einem noch feineren und unwirklicheren Staub bedeckt, als jener, der den Sarg bedeckte. Er war weiß gekleidet, ohne Socken, enge weiße Hosen, mit dem in London gekauften Vorhemd und dem seidenen grauen Schlips. Er trug nicht mehr den Frack aus englischem Wollstoff, den ihm meine Großmutter angezogen und mit dem er immer nach seinem Tod in ihrer Erinnerung geblieben war. Motten hatten sich im Stoff eingenistet und ihn zerfressen, so dass Großvater vor unseren verblüfften Augen in einfachen Baumwollunterhosen dalag.

Sie war ein Kind des Krieges.

Sie empfand sich als solches, weil alle Landschaften, die sie in ihrer Erinnerung bewahrte, nur Ruinen und Zerstörung waren. Nachts, im Dunkel, in irgendeinen Winkel gekauert spürte sie unklar, verschwommen den Schrecken des Krieges in ihr rumoren, spürte, wie er ihr die Kehle zuschnürte und vergeblich versuchte, die Schleier von dem, was ihr Leben war, zu lüften, die sie lieber nicht gelüftet haben wollte, weil sie ahnte, dass jene Schatten, die durch den Bodennebel ihrer Erinnerungen taumelten, schmerzvoll waren.

Um sich gegen die bedrohlichen Erinnerungen von früher zu schützen, klammerte sie sich an die wenigen gegenwärtigen Erinnerungen: Schüsse, Explosionen, Panik, Wegrennen, Kälte und Hunger. Ihr ganzes Leben, ihre ganze Geschichte bestand nunmehr aus nichts weiter als Schüssen, Explosionen, Panik, Wegrennen, Kälte und Hunger. Sie war ein Kind des Krieges. Und deshalb flüchtete sie auch.

Sie flüchtete nirgendwo hin, denn wo immer sie sich hinwandte, stieß sie auf Verwüstung und Tod. In einem Winkel in ihrem Inneren trug sie auch die Bilder von Verwüstung und Tod ihrer Familie, die ließ sie aber nicht ins Bewusstsein aufsteigen. Sie drückte sie nach unten, nach unten, in die verborgendsten Plätze ihrer Seele. Und wenn, wie ein unvermutetes Schluchzen, Fäden der verdrängten Erinnerung auftauchten, kam ihr eine seltsame, tröstliche Melodie in den Sinn, die ebenfalls von ganz weit her heraufströmte. Wie eine wohltuende frische Brise in der drückenden Hitze ihrer noch immer lebendigen Erinnerung klang sie mächtig in ihrem Kopf und verscheuchte alles, woran das Mädchen nicht denken wollte.

Sie lebte wo auch immer wie ein wildes Tier. Ausgehungert und scheu, versteckte sich vor den Leuten, klaute, wann immer sie konnte, irgendetwas Essbares, legte sich an irgendeinen einsamen, geschützten Platz, wenn sie sich vor Müdigkeit nicht mehr auf den Beinen halten konnte.

Und eines Nachts stieß sie auf die Zirkuskarawane.

Ein heftiges Gewitter hatte den ganzen Abend lang gewütet, und sie war zwischen Regenguss und Blitzen auf der Suche nach einem Unterschlupf in der Umgebung des Dorfes umhergelaufen, während das Wasser unaufhörlich herunterprasselte. Als es schon Nacht wurde, beruhigte sich das Wetter, und sie machte sich ohne Ziel, völlig durchnässt und hungrig auf den Weg. In der Dunkelheit erspähte sie in der Ferne schwache Lichter und dorthin richtete sie ihre Schritte. Wo es Licht gibt, sind Leute, und wo Leute sind, kann man etwas zu essen klauen.

Es schien kein Mond, und obwohl das Unwetter eigentlich vorbei war, tröpfelte es noch vom Himmel. Es war stockdunkel und die Stille wurde nur von noch fallenden, feinen Tropfen durchbrochen. Als sie beim ärmlichen Lager des Zirkus ankam, schliefen schon alle in der Gewissheit, dass in so einer Nacht keine Flugzeuge mehr aufsteigen würden. An der nur noch dahinglimmenden Feuerstelle, fand das Kind des Krieges nur noch Reste von Schalen einer Wassermelone, die die Zirkusleute wohl von einem verwüsteten Feld geholt und auf den Boden geschleudert haben mussten, um sie danach aufzuteilen.

Die Stücke waren bis zum letzten Rest abgenagt, aber das Mädchen röstete sie und konnte so noch etwas herauskratzen, während sie mit den Beinen in der verloschenen Glut stocherte, um so ihre eisigen, schmerzenden Füße ein wenig zu wärmen.

Als das Mädchen des Krieges alles, was sie konnte von der Wassermelone abgenagt hatte, fühlte es sich plötzlich sehr müde. An der Feuerstelle konnte sie nicht bleiben, denn dort würde man sie entdecken. Mit der Schale des größten Melonenstücks, das sie soeben abgeschleckt hatte, noch in der Hand, näherte sie sich den Wohnwagen, und da erspähte in der Dunkelheit hinter eisernen Gitterstäben einen Haufen Stroh. Sie tastete das Gitter ab, bis sie den Riegel fand, um es zu öffnen. Sie stieg in den Anhänger, lauschte ein paar Sekunden aufmerksam. Da sie kein verdächtiges Geräusch hörte, schlich sie leise hinein und ließ sich in das Stroh sinken.

In ihrer Erschöpfung hatte das Mädchen nicht bemerkt, dass sie in den Löwenkäfig geschlüpft war. Sie ringelte sich genüsslich auf dem Stroh ein und hörte nicht einmal das leise Klicken des Riegels, der sich wieder schloss.

[...]

Einige Stunden danach, als der Käfig zu schaukeln begann, war der Löwe, der, weil er alt war, nur wenig Schlaf brauchte, aufgewacht.

Beim ersten Rütteln schlug er die Augen auf, bemerkte in der Dunkelheit, dass jemand in seinen Bereich eingedrungen war und ein Stück seines Strohlagers besetzte. Ein kleines weibliches menschliches Wesen.

Der ruhige Atem und der tiefe Schlaf des Mädchens, der Geruch nach Verlassenheit ihres erschöpften Körpers ließ das Tier begreifen, dass es von diesem Eindringling nichts zu befürchten hatte. Der Löwe näherte sich also und gab dem zusammen geringelten Körper etwas von seiner Wärme, und so aneinandergeschmiegt schloss auch er die Augen und schlief wieder friedlich ein.

Die Morgendämmerung im Wald fiel auf den Löwen und das schlafende Mädchen, ganz dicht beieinander liegend. Seit Tagen hatte das Mädchen nicht so ruhig geschlafen. Beim Aufwachen rieb sie ihre schmutzige Wange gegen das spröde Fell des Löwen.

Zunächst erschrak sie. Als sie dann den Kopf hob und das Tier sah, erschrak sie und sprang auf. Außer sich vor Angst wich sie zurück, bis sie mit dem Rücken an die Gitterstäbe stieß. Sie keuchte unhörbar, zitterte am ganzen Körper. Sie spürte schon, wie sich der riesige Körper des Löwen auf sie warf, seine Krallen ihr Kleider und Haut zerfetzten, ihren Körper zerrissen.

Aber das friedliche Verhalten des Löwen, der sanft seine Augen auf sie richtete, mit derselben Gelassenheit, mit der er das Stroh rundum oder den dunklen, verhangenen Himmel hinter den Gitterstäben betrachtete, wiesen gar nicht darauf hin, dass er sie angreifen wollte.

Der Löwe starrte sie lange Zeit reglos an. Dann wedelte er mit dem Schwanz, so als wollte er eine nicht vorhandene Fliege verscheuchen, streckte die Zunge heraus, um sich über die trockenen Ränder seines Mauls zu schlecken, gähnte, schloss die Augen und machte es sich wieder bequem. Es war so als hätte er gesagt: «Es macht mir nichts aus, dass du hier bei mir bist.»

(La música perduda [Verlorene Musik], 2006)

Aus dem Katalanischen übersetzt von Theres Moser ©


Amb el suport de:

Institució de les Lletres Catalanes