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Maria-Antònia Oliver
1946-2022

3. Alemany [Fragment Strickmuster]

[...]

Sie stellt sich vor, sich die Augen zu reiben und bemerkt dann, dass jeder einen eigenen Körper hat, auch sie, und auch er, obwohl er sich zunehmend der Erinnerung entzieht.

Als ich in die Mittagssonne hinaustrete, ist seine stete, in Gedanken bestehende Anwesenheit wieder da, und die mir noch in den Knochen sitzende Angst, seine Augen nicht mehr im Gedächtnis zu haben, verflüchtigt sich.

Zumindest bewahrt sie ein Bild von ihm, wenn schon nicht seine körperliche, berührbare Anwesenheit, das Farbbild, die nichts sagende Ikone, das Bild, das sie begleitet und ihr hilft, sich den Strassen, dem Nebel, der Sonne und den wie auch immer gearteten Wetterverhältnissen zu stellen.

Tief hängende weiße Nebelschwaden, durchbrochen von schillerndem Licht, an einem winterlichen, frühen Sonntagmorgen, den sie nützen wollte, um einen Tag ohne Nebelschwaden zu genießen, während die Stadt noch im Schlaf lag und die Häuser noch hinter einer unglaublichen Weiße versteckt, das von der zögerlichen Sonne noch nicht gebrochen war.

Hinter dem Nebel ließ sich ein Stück blauen Himmels erspähen, ein Hinweis, dass ihnen die ganze Stadt zu Füßen liegen würde.

Die leere Straße im Auge haben und die Mädchen und Buben mit ihren dicken Wollsocken, festen Schuhen und Gamaschen, gebeugt unter ihren Rucksäcken vor sich hin trappelnd eher erahnen als sehen, um fünf Minuten später auf Autobuschauffeure und schon morgens laut schreiende Menschen zu treffen.

Minute um Minute zu betrachten, wie sich der Dunst auflöste, die aufkommende Wärme zu spüren, die das unaufhörliche milchige Licht zerteilte, kreuz und quer über verlassene Straßen gehen.

Frisch gewaschen und herausgeputzt die Häuser, Portiere, die Blumentöpfe nur an einem einzigen Tag in der Woche an die frische Luft stellen, vor sich hin dämmernde Autos am Straßenrand, wie zerknittertes, müdes Blech an sprießenden Bäumen geparkt, deren Blätter nicht aus Papier sondern echt waren, und die den reichen Bürgern der Stadt als Futter dienten.

Lange und leere Straßen, eng und unheimlich, ohne den geringsten Staub, von Reif überzogene Plätze, Laub, das mit dem flüchtigen, von der Sonne aufgelösten Nebel verstecken spielte, feuchte, mit Moos überzogene, beschauliche Bänke, die wie verzaubert der Härte des Holzes zu trotzen scheinen.

Und Stille.

Auswüchse der Stadt.

Das wütende Prasseln des Wassers gegen die weißen Fliesen, das Zischen des aufsteigenden Wassers in der Kaffeemaschine hinter verschlossenen Jalousien.

Ein sonntäglich gekleidetes Paar eilte noch zur Messe, und von einem von einer Familie voll besetzten Auto dröhnte noch der Nachhall von den zugeknallten Türen, Wochenende für Wochenende aufbrechend ins so vermisste Grün.

Leichte Bewegungen da und dort, sich auflösende Schatten und Helle, die flüchtige Wahrnehmung von Leuten in einem Haus, an einem Portal, auf dem anderen Ende der Straße.

Nun war es schon strahlend blau, und von dem Dunst nicht die geringste Spur mehr übrig, so als hätte es ihn nie gegeben und hinge bloß noch an den leeren Wäscheleinen.

Die Hunde kamen heraus und pissten an die Bäume: Mit hocherhobenem Kopf, frei von Leine oder Peitschenknall verrichteten sie mit spielerischem Gehabe ihr Geschäft mit der dafür angebrachten Miene. Und nachdem die Besitzer in ihren Häusern geblieben waren, hatten sie die luxuriöse Möglichkeit, Autoreifen und Hauseingänge mit einer unaufhaltsamen Befriedigung anzupinkeln. Danach wedelten sie befriedigt mit dem Schwanz und schnupperten zum Himmel hinauf, erstaunt von seiner Klarheit. Sie markierten noch einmal ihr Terrain, diesmal ohne Interesse, und setzten sich schließlich nachdenklich in die ersten Strahlen einer feuerrot aufgehenden Sonne.

Wie konnte ich bloß im Zentrum auf so eine Menschenmenge stoßen? So als hätten sich die Stille und das Durcheinander die Stadt in zwei Teile zerschnitten und aufgeteilt.

Woher war diese immer größer werdende Menschenmenge gekommen, die mit Liedern auf den Lippen auf und ab spaziert?

Paare mittleren Alters mit einem Kuchen aus der Konditorei, der am Daumen ihrer rechten Hand baumelt; ein durch den bevorstehenden Sonntag und den Blumenstrauß in seiner Hand verjüngter Herr, herumspielende Jungen und Mädchen; Tische auf den Plätzen und Terrassen voller Jugendlicher, die auf ihr Bier oder ihren Wermut warten.

Die Stadt im Festkleid, herausgeputzt und strahlend, wechselhaft, wandelbar, veränderlich. Wo war bloß der ganze Staub geblieben, der übliche Ruß?

Es gab auch langsam beginnende Sonntage mit leiser Hintergrundmusik, Skizzen und Entwürfen, einsam und zusammen, während draußen die morgendlichen Nebel die Häuser in Schwarzweiß zeichneten.

Sie spaziert nun wie die anderen Spaziergänger an einem strahlenden Sonntagmorgen, setzt sich auf eine Steinbank mit Blick aufs Meer, und betrachtet die unbegreiflichen Wellenberge. Auf ihnen schweben flüchtig die Augen und Münder, Stirnen und Haare der Freunde der sonntäglichen Runde, das Bild von einigen flüchtigen Bekannten, von den einen oder anderen Leuten.

Verschwommene Gesichter, Schulzeichnungen, mit Wasserfarben gemalt. Braune Augen, sanft mit dem Finger verwischt, bis das Meer, das diese Erde umgab, zu einem himmelblauen Fleck wurde, dunkler an den Rändern, in der Mitte verwischter und mit dem Weiß des Zeichenblocks vermischt, in einem verlorenen Horizont ohne Streifen.

Ganz klar und deutlich hat sie nun die meerblaue Linie vor Augen, die den Hintergrund für die verlorenen, irgendwo gestrandeten Gefährten abgeben.

„Heute hat das Meer ein seltsam unbestimmtes Blau“, sagte Jaume einmal.

Nun ist das unvergleichliche Gefühl einer Aufgehobenheit vergessen, das es dir ermöglicht, jemandem alles mitzuteilen, von den intimsten Intimitäten bis zu den banalsten Banalitäten, Schwachsinn, Gefühle, Gedanken, die sich nicht mit Worten ausdrücken lassen, weil es keine Worte für sie gibt.

„Gedanken ohne Worte, wie soll denn das gehen“, hatte Virgínia einmal angemerkt.

Eine verschlossene Tür, die sie am Abend gemeinsam öffneten, und selbst die verborgensten, bloß gefühlten oder erahnten Dinge wurden erforscht.

Das Innerste, das sich alle Menschen zwischen Gehirnwindungen und Pulsschlag, für jeden anderen unzugänglich bewahren, diesen ganz persönlichen Schatz, völlig abgeschirmt und eingefriedet, wurde auch zwischen ihnen beiden ganz offen dargelegt.

Die Türen der Erinnerung sind zugefallen und dahinter pulsieren noch heftig Bilder, die sich in Körpern, Stimmen, Gesten wieder finden wollen, und es bleibt nichts anderes mehr übrig, als das Meer zu betrachten, dass sich kalt und gleichgültig vor ihr ausbreitet, ferner Dunst und Rauschen.

Nun, nicht einmal die Freunde. Gar nichts.


(Aus Punt d'arròs [Strickmuster]. Barcelona: Edicions 62, 1996, S. 74-77)

Aus dem Katalnischen übbersetzt von Theres Moser ©


Amb el suport de:

Institut d'Estudis Baleàrics