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Baltasar Porcel
1937-2009

3. Alemany

Aber es war nicht jener Augustmorgen, an dem Tante Amalia mit mir eine Reise in die Vergangenheit meines Vaters machte, sondern fast ein Vierteljahrhundert später, als ich das letzte Mal nach Andratx kam, ebenfalls im Herbst, um die Erbschaftsunterlagen in Ordnung zu bringen —die meiner Großmutter, die ich schon lange hatte, die des Vikars, die noch relativ neu waren — und um noch mehr Dokumente herauszukramen und die Zusammenhänge mit meinem Vater und anderen Geistern zu suchen, so fadenscheinig sie auch waren.

Nach Son Farriol zu gehen beschloss ich, als die Sonne schon untergegangen war, an einem Abend. Der Weg zu der Finca ging geradeaus, umsäumt von Granatapfelbäumen. Ich blieb stehen, um einen Granatapfel anzufassen, blutrot, mineralisch. Mir schien, als täte ich das alles nicht zum ersten Mal, sondern oft, obwohl ich an diesem Sommertag zum ersten Mal Son Vadell betreten hatte. Aber vielleicht hatte die Erinnerung an diese Stunden, an diese so deutliche Realität, eben weil ich sie wieder wachrief, die Ordnung der Zeit überwunden und schlafwandelte nun, in einem immerwährenden festen Raum wie in einem Grab.

Aus dem Garten, aus dem Dickicht der mit Stöcken markierten Beete, begann eine leichte Feuchtigkeit aufzusteigen. Der Weg hingegen war heiß, noch von der Nachmittagssonne aufgewärmt, die unerwartet warm geschienen hatte, als ob sie niedriger stand als gewöhnlich. Es schien, als wäre ein riesiges Tier auf dem Weg gelaufen, das eine noch frische Spur hinterlassen hatte. Einen Moment lang dachte ich, dass es der große Drache aus dem Märchen gewesen sein könnte, schnaubend, mit seinem Feueratem, der von den einsamen Felswänden am anderen Flussufer den “Garten der Liebe und der Orangen“ beobachtet. Aus dem Märchen, das mir mein Vater erzählte, kurz bevor er wegging.

Rings um das Haus hatten die Magnolien schon fast alle ihre Blätter verloren. Sie zeichneten sich dunkel und halb kahl vor der Fassade, mit ungewöhnlicher Strenge. Es waren noch hier und da einige späte Magnolien übrig, welk, von grabesähnlichem, traurigem Weiß, wie ein Zeichen exotischer Trauer. Niemand war zu sehen. Auf der großen Treppe war keine einzige Pflanze: nur die Treppenstufen und die Mauern, trockener Stein, schlichte, abgekratzte Nacktheit. Ich trat ein. Das Haus war still, voller Staub, auf dem Wohnzimmer lastete die Verlassenheit... Ich weiß nicht, ob es der Geruch war, der mir widerlich süß in die Nase stieg, durch den mir die Anwesenheit von Tante Amalia bewusst wurde, noch ehe ich sie sah.

(Aus Cavalls cap a la fosca, 1975, S. 73-74)

* * *

—Exzessiv? Das Schlimme an den Armen ist, dass nicht nur ihr Bauch arm ist, sondern auch ihr Geist. Und weißt du, wie sich das äußert? Der Arme ist überzeugt, dass er in allem Recht hat, was er denkt, er verwechselt das Unwissen mit der Beharrlichkeit. Vielleicht ist es eine paradoxe psychologische Notwendigkeit, aber vielmehr noch ist es etwas Festgefahrenes. Schau seine Mutter an. Sie ist das lebende Beispiel.

Elianor aß ohne innezuhalten, sie hörte ihrem Sohn nicht zu. Olympia setzte die Argumentation fort:

—Trotzdem gibt es die Wurzeln, die Ökologie, eine Logik, die in der heutigen Welt ohne Ausnahme gilt, es gibt Porto Alegre, die Globalisierungsgegner, und warum sagst du, dass man hier ohne Ausnahme vorgehen müsste, weil...

—Vergiss es —unterbrach sie Sinibald—. Wir haben das größte Durcheinander angefangen und haben es selbst nicht bemerkt: Sogar die Toten sind gekommen.

Marika war verblüfft:

—Jetzt übertreibst du aber!

Elianor verschluckt sich fast, zwischen ihren Worten und dem Mund voller Mandeln:

—Wer den Mund aufmacht, ist auf jeden Fall dem Tod geweiht.

Sinibald, war er inspiriert, rüttelte der Geist des Ideals an ihm, den er tief vergraben in sich fürchtete und der ihn urplötzlich auf konfuse Weise angestiftet hatte? Und das alles nur wegen jener wunderbaren Frau, die gekommen war, wegen ihrer warmen körperlichen Erscheinung, ihren dunklen Augen und ihrem klebrigen Geschwätz? Jene Bitterkeit, deren Verdrängung Sinibald bereits so sehr verinnerlicht hatte, wenn er manchmal eine unerwartete Anwandlung von Sehnsucht bekam, löste Erinnerungen aus, schmerzlich enttäuschte Erwartungen, und das wurde zu einer brodelnden Mischung, die einen sofortigen innern Kampf auslöste, der ihn in einen Zwiespalt riss, so dass er zu einem Sinibald wurde, der er nie gewesen war.

—Ich habe es selbst erlebt und gesehen, als ich jung war —sagte er dickköpfig—, hier in Sant Telm und in Andratx, in den Fünfziger Jahren. In Palma sah man nur den wirtschaftlichen Gewinn in jedem Stück Land der Insel, das verkauft wurde, in jedem Hotel, das auf einem Grundstück errichtet wurde, in jedem Haus, das von einem Ausländer gekauft wurde. Und die Stadt, wie sie sich die Leute vorstellten, war ein einziger großer Laden. Aber auf den Dörfern, dort wo die Transaktionen wirklich durchgeführt wurden, wenn dort jemand auf solche Weise einen Besitz loswurde, fühlte er sich bald orientierungslos, obwohl er nicht so recht wusste warum: Mit dem Verkauf hatte er nämlich seine Ahnen verschachert.

—Ich glaube, ich verstehe, was du meinst.... —Olympia runzelte leicht die Stirn.

—Eine Finca, ein Bauernhof, alles ist voller alter Familiengeschichten, voller guter Geister der Ahnen. Ich habe meine Großmutter auf dem Coll Baix gesehen, wie sie eine Ziege molk, in Sa Coma Freda war mein Onkel vom Pferd gefallen und hatte sich ein Bein gebrochen, mein Vater hatte mir erzählt, dass sein Ururgroßvater den Brunnen von Son Serra gebaut hatte, zu Weihnachten aßen wir alle zusammen im Haus meines Onkels und meiner Tante in Son Sampol, hier in Sant Telm hatten wir einen großartigen Feigenhain, mein Großvater aus S’Arracó war Volksdichter, in Son Orlandis tanzten wir Boleros mit den Cousins und Cousinen Sandalina, für die einen im Frühling, für die andern im Herbst ihres Lebens.

—Biel Sandalina war ein Dieb— brachte Elianor de Cas Manescal hervor.

Sinibald beachtete sie nicht:

—Ich will damit sagen, dass ich natürlich immer ich selbst war, so wie jeder, aber dass gleichzeitig in mir alle unsere Toten weiterleben, die uralte Erinnerung, die in den Lebenden fortlebt dank der Orte, der räumlichen Umgebung und der Architektur, den Möbeln, die Schauplätze oder Werkzeuge waren, die Verkörpertes und Früheres aufbewahrten. Wir lebten auf begrenztem Raum mit unserer psychischen Unbegrenztheit, uns gehörte das Land, uns gehörte die Luft, so greifbar wie das jahrhundertealte pralle Leben, das pulsiert und sich zwischen all dem Durcheinander entfaltet. Und, indem wir das Land und die Häuser verkauften, verkauften wir die Erinnerungslast unserer Vorfahren und zerbrachen so das feste Band mit denjenigen, von denen wir abstammen und wurden so zu Waisen unserer selbst.

Marika, die für die Überlegungen von Sinibald unempfänglich schien, schüttelte den Kopf:

—Die Leute verkauften die Grundstücke an die Ausländer und waren froh über den Tourismus, trotz der Bausünden, die entstanden sind; sogar du gibst selbst zu, dass jeder Hunger hatte leiden müssen und dass die Dollar, Mark, Francs und Pfund uns von der Armut befreiten.

—Ja, aber die Alten wurden auf diese Weise zur Leere verdonnert, darauf, einsam vor dem Kamin oder im Café zu sitzen, ohne die Stimmen der alten Häuser und der Felder, auf denen gearbeitet und geerntet wird, ohne dass die nächste Generation die Gesamtatmosphäre prägen. Und so wurde aus den Erinnerungen der Ahnen, die man nicht mehr zu Wort kommen ließ, ausgeprägte Melancholie.

(Aus Olympia a mitjanit, 2004, S. 258-260)

Übersetzung aus dem Katalanischen von Katharina Wieland ©



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Institut d'Estudis Baleàrics