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Antònia Vicens

3. Alemany [Klar wie ein Spiegel]

Marina spaziert vergnügt am Arm ihres Großvaters über die Avenue Jaume III. Es dämmert gerade, und die erlesenen, raffiniert gestalteten Schaufenster ziehen die Blicke der Passanten an.

»Was soll ich dir kaufen? Was hättest du denn gerne?«, fragt der Großvater. Von all seinen Enkelkindern hat er sie am meisten ins Herz geschlossen.

»Mir gefallen diese Schuhe« sagt sie und deutet mit dem Finger auf eine Auslage, um sie ihm zu zeigen. Sie sind einfach und schlicht, aber trotzdem die teuersten.

»Gut«, erwiderte der Mann und zückte die Brieftasche, während er sie ein wenig verdutzt mustert, so als wäre sie noch ein kleines Mädchen.

Sie ist sehr schlank, blasshäutig, hat ihr Haar hellblond gefärbt, sich mit dunklem Lippenstift den an Jujubenbeeren erinnernden Mund geschminkt, und ist das Ebenbild seiner Frau, natürlich das aus jungen Jahren, als er sie kennen gelernt hatte, und Komplexe hatte, weil er klein und stämmig war, seine zwei Ziele jedoch kannten keine Grenzen: Er hatte sich vorgenommen, schnell reich zu werden und dieses begehrenswerteste und reichste Mädchen des Ortes zu erobern, wobei er viele Rivalen ausstechen musste. Von diesem Erfolg hing zu einem Gutteil seine Zukunft ab. Seine Männlichkeit.

Seine Enkelin nimmt im Schuhgeschäft Platz und probiert die Schuhe, er hingegen lässt die Gedanken zurückschweifen und siehst sich, wie er seine Sandalen auszieht und sie sorgfältig unter einen Mastixstrauch stellt, ganz in der Nähe vom Meer, unter einem ruhigen, zart lilafarbenen Himmel, über den Schwärme von tief fliegenden weißen Möwen zogen. Und als die Enkelin ein paar Schritte auf und ab geht, um zu prüfen, ob ihr die Schuhe auch passen, jagt er hinter Gesträuch und Schilfrohr hinter diesem hellblonden Mädchen her. Als seine Enkelin schon vor der Kassa steht und der Verkäuferin drei Hunderteuroscheine überreicht, stürzt er sich gerade auf das Mädchen, vergräbt sich in ihr goldenes Haar, verliert sich in den aufgewühlten Wassern ihres Geschlechts.

Genau in jenem Augenblick der Lust, einem jener seltenen Momente der glückseligen Erfüllung wurde die Mutter von Marina gezeugt.

Marina hakte sich wieder bei ihm ein. In der anderen Hand trug sie die Schuhe. Sie lässt sich von Großvater ziehen, denn so fühlt sie sich klein, beschützt und geliebt.

»Erzähl mir doch noch einmal, wie du zum Mann wurdest«, bittet sie ihn.

»Das habe ich dir doch schon tausendmal erzählt. Ich begann als Kellner in einer Bar auf dem Marktplatz zu arbeiten, und als ich meinen ersten Verdienst bekam, fühlte ich mich als ganzer Mann, obwohl ich erst vierzehn war.«

Marina lacht. Sie lacht wie verrückt, als plötzlich die Weinnachtsbeleuchtung eingeschaltet wird und ein Regen von künstlichen Sternen auf sie herunter fällt und ihre Freude des gemeinsamen Spaziergangs unterstreicht.

»Und mit zwanzig Jahren warst du schon reich?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort kannte.

»So gut wie. Wenn du vif warst, war es jenen Jahren leicht, Geld zu machen. Du kauftest ganz billig ein Haus, gestaltetest es zu einem Restaurant um und hattest bald genug zusammen, um ein kleines Hotel anzubauen. Da die Touristen in Scharen kamen, wurden sie als Herde behandelt, denn es schien ihnen ja egal, wo sie schliefen, und was ihnen zu Essen vorgesetzt wurde... Außerdem war der Schmuggel von Tabak und Kaffee ungefährlich und sehr einträglich.«

Marina spaziert lächelnd und vergnügt weiter. Sie studiert Kunstgeschichte in Rom, weil ihre Mutter es sehr liebevoll, aber doch sehr nachdrücklich von ihr verlangt. Denn sie ist eigentlich so richtig glücklich bei einem Einkaufsbummel. Und außerdem ist sie verliebt.

»Was schaust du dir denn da an?«, fragte sie Großvater, als sie vor einem Spielwarengeschäft stehen geblieben war.

»Mir gefällt dieser Terrier, der so seidig aussieht.«

»Ja dann nur zu, ich kaufe ich ihn dir.«

»Nein!«

»Aber ja doch, vierhundert?«

»Gut.«

Sie betritt das Geschäft und der Mann, an die Auslage gelehnt, sieht mit Entsetzen das Gesicht seiner Enkelin inmitten einer Menge von Tierköpfen. Da mochten sie noch so sehr aus Plüsch oder Plastik sein. Sollte irgendein Schuft ihr etwas zuleide tun, würde er ihn umbringen, das steht für ihn fest.

Sie verlässt das Geschäft bald wieder, mit einem weiteren, riesigen Einkaufssack, aus dem die spitzen und starren Ohren des Hundes hervorsehen.

»Ich will nicht nach Rom zurück«, sagte sie plötzlich. »Ich will nicht mehr studieren.«

»Das würde deiner Mutter aber sehr missfallen, ganz zu schweigen von deiner Großmutter. Sie könnten dann nicht mehr ihren Freundinnen gegenüber damit prahlen.«

»Sollen sie es doch machen, oder einer meiner Brüder!«

»Deine Brüder sind noch zu klein. Und außerdem nicht so aufgeweckt wie du. Ich habe in keinen von ihnen Hoffnungen gesetzt. Du bist mehr wert als sie alle zusammen, Marina. Du solltest höhere Ziele verfolgen.«

»Nein, Großvater, nein. Ich will keine höheren Ziele verfolgen«, sagt sie anmaßend. »Kaufst du mir ein Eis? So wie damals als ich klein war? Essen wir doch gemeinsam ein Eis!«

Sie gehen in die erstbeste Bar unter den Arkaden und setzen sich an einen Tisch am Fenster, von dem aus sie das Treiben draußen beobachten können. Ein mürrischer Bettler macht ihnen Zeichen hinter der Scheibe, und er zückt mit einem Ruck seine Geldtasche und kramt nach einer Euromünze, denn auch wenn er sein Geld leicht und ziemlich skrupellos verdient hatte (in düsteren Momenten kommt ihm jenes abendliche Gewitter in den Sinn, wie sein Freund, mit dem er gemeinsame Sache machte, gegen das aufgewühlte Meer ankämpft und um Hilfe schreit, während er den Motor des Bootes anlässt und der Küstenwache entkommt), ist er ein Mann, der sich aus seiner Kindheit ein paar Grundsätze bewahrt hatte, um ein guter Mensch zu sein. Aber eine aus dem Großkaufhaus El Corte Inglés herausströmende Masse zieht den Bettler mit sich und verschluckt ihn schließlich, so einfach, wie jener Wasserwirbel damals seinen Freund.

Sie beginnen sofort, an dem Eis zu schlecken, das ihnen soeben serviert worden ist, zwei Kugeln Sahneeis und eine Erdbeereis, und damit ist dieser aufkeimende glühende Stolz, der ihn noch vor ein paar Sekunden wie eine Woge der Leidenschaft durchflutet hat, mittlerweile von ihm gewichen, und die knotigen Venen an seinen von weißen Haarsträhnen verborgenen Schläfen schwollen gefährlich blau an: Ich habe vier Enkelkinder, und alle scheinen überhaupt kein Ziel für ihr Leben zu haben; ach, meine Geliebte aber schon, die holt sich, was sie braucht, und außer ihren Stunden in einem Fremdspracheninstitut bezahle ich ihr auch noch die Miete für die Wohnung. Das alles ohne wirklich sicher zu sein, dass sie mir treu ist; manchmal verstehe ich nicht, warum sie einen Alten wie mich aushält, wenn nicht wegen des Geldes, das sie mir aus der Tasche zieht. Aber an die blutjunge Geliebte zu denken, während er mit seiner Enkelin ein Eis isst, findet er doch nicht angebracht, also schüttelt er diese Gedanken wie Schuppen ab und richtet seine Augen auf die hohe, anmutige Stirn Marinas. Sollte irgendein Schuft es wagen, ihr etwas zuleide tun, würde er ihn umbringen, sagt er sich wieder.

Marina steht plötzlich auf. Sie streckt ihren schmalen Hals zur anderen Straßenseite hin.

»Siehst du den jungen Mann da drüben mit dem blauen Mantel?«

»Eine ganze Menge junger Männer tragen einen blauen Mantel.«

»Den kleinen kräftigen, mit kurzen Haaren, meine ich.«

»Ach so«, sagt er, nachdem er ihn in dem Gedränge ausgemacht hat. »Was ist mit dem?«

»Er gefällt mir.«

»Kennst du ihn?«
»Seit wann?«

»Seit kurzem.«

»Studiert er?«

»Nein. Aber ich will ihn, ich will ihn, Großvater, ich will ihn.«

»Schon gut. Gut. Sprechen wir nicht weiter darüber, er wird der Deine sein«, antwortet er ihr voller Zuwendung und Liebe. Aber als er dann seine Enkelin mustert, glaubt er statt einem dankbaren Lächeln eine ganz tiefe Beunruhigung festzustellen, die sich hinter den eingefallenen Wangen und den gelben Ringen unter den Augen zeigt. Genauso wie seine Frau jedes Mal, wenn sie schwanger war. Es muss, denkt er, noch irgendein Foto von ihr, als sie in guter Hoffnung war, in irgendeiner Schublade sein. Plötzlich schießt ihm die Szene völlig klar in den Kopf, ohne Kosmetika, mit denen man normalerweise Erinnerungen schminkt. Auch ohne Pinien und Sträucher. Es fand auf einem ausgedörrten Feld statt, unter einem harten Himmel, auf dem die Köpfe getöteter Tiere schwebten, wo er geil wie ein Esel das reichste und begehrteste Mädchen des ganzen Dorfes auf den Boden warf und bestieg.

Marina winkt dem jungen Mann zu, der schmeichlerisch näher kommt. Als der Großvater ihn vor Augen hat, dreht es ihm den Magen um. Die selbe skrupellose, prahlerische Pose, wie er sie in seinem Alter an den Tag gelegt hatte, diese Art, jemanden schamlos und dreist ins Gesicht zu sehen.

Der junge Mann streckt ihm mit einem Lächeln die Hand entgegen, das ihm gleichzeitig klar und herausfordernd wie ein Spiegel zu sein scheint. Aber statt sein eigenes Spiegelbild herauszufordern, zückt er das Messer, das er immer in der Innentasche seines Sakkos trägt, und rammt es ihm mitten in die Brust.

Der Junge schwankt zunächst, dann fällt er der Länge nach hin mit einem so fernen und seltsamen Gesichtsausdruck, dass niemand an seinem Weggehen in eine andere Welt zweifelt.

(Als die Polizisten den Mörder abführen, dreht dieser seinen Kopf zu Marina, die wie angewurzelt, ohne ein Wort hervorbringen zu können dasteht, und sagt zu ihr:

»Sei nicht unglücklich, Liebling. Ich wollte mich schon seit geraumer Zeit umbringen.)«

Weihnachten 2004

Aus dem Katalanischen übersetzt von Theres Moser ©



Amb el suport de:

Institut d'Estudis Baleàrics