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Carles Batlle

Carles Batlle im Gespräch mit der Dramaturgin Anna Haas. Tübingen, 2005

[Zu Versuchung]

Nichts ist einfach und eindeutig
 

Ihr Stück trägt den Titel VERSUCHUNG. Mehrfach zitieren Sie Oscar Wilde, bei dem es heißt: "Ich kann allem widerstehen, nur der Versuchung nicht". Wodurch werden die Figuren in Ihrem Stück in Versuchung geführt?
In Versuchung geführt werden ja vor allem Guillem und Aixa, die beiden jüngeren Figuren: Für Guillem liegt sie darin, der Attraktion des Exotischen, des Andersartigen nachzugeben, sich mit der fremden Kultur zu vermischen und somit seine eigenen Wurzeln, seine eigene kulturelle Identität zu verraten. Für Aixa wiederum liegt die Versuchung vor allem darin, ihren eigenen Vater und damit -symbolisch- ihre Herkunft, ihre Wurzeln, ihre eigene Geschichte zu "opfern", um ihren Traum von einem besseren Leben zu verwirklichen ...

Die jüngsten Bilder aus den spanischen Exklaven in Marokko haben das Problem der Immigration noch einmal ganz deutlich in unser Bewusstsein gerückt. Spanien als Grenzland der Festung Europas in Richtung Afrika ist davon besonders betroffen. Die durch das Exil bedingte Entwurzelung der Immigranten ist ein zentrales Thema in Ihren Stücken.
Natürlich greife ich mit dem Stück, gerade in Aixas Monolog, der von den Umständen ihrer Überfahrt erzählt, die ganz aktuelle Situation auf. Und klage damit die schreckliche Tragödie an, die sich täglich an unseren Küsten ereignet. Aber eigentlich ist das nicht das Thema des Stücks. Mich interessieren vor allem die Fragen der Identität und der Erinnerung.
Wenn jemand seinen Ort verlässt -Exil, Auswanderung-, kommt der Moment, wo er merkt, dass er weder zu dem Land gehört, in das er gegangen ist, noch zu dem, das er verlassen hat. Er kann nicht zurück, denn wo er herkommt, ist das Leben ohne ihn weitergegangen. Er gehört plötzlich nirgends mehr dazu: Das ist das Drama des Exils, die Tragödie der Entwurzelung. Und auf der anderen Seite steht der Konflikt für die "Einheimischen": Sie erleben die Attraktivität des Fremden, den Reiz der kulturellen Vermischung, aber gleichzeitig wird dadurch die Wahrnehmung ihrer eigenen Identität infrage gestellt.

Inwieweit haben Sie sich bei VERSUCHUNG an dokumentarischem Material orientiert?
Ich bin von einer Zeitungsnotiz ausgegangen. "Die Polizei sucht die Familie eines Mannes, der tot und ohne Papiere auf der Straße aufgefunden wurde". Ich habe mich gefragt: Warum sucht die Polizei die Familie? Der Mann hat keine Papiere oder Dokumente. Er könnte ein Bettler oder illegaler Einwanderer sein. Warum sucht ihn die Familie nicht? Ich stelle mir dazu folgende Geschichte vor: Die Tochter des Toten erfährt, dass ihr Vater überfahren wurde. Wenn sie nun Anspruch auf den Körper erhebt, um ihn zu begraben, wie es die Tradition verlangt, dann wäre sie, wenn auch sie illegal ist, gezwungen in ihr Land zurückzugehen. Ein Dilemma wie in "Antigone": Entweder begräbt sie ihren Vater, oder sie hat eine Zukunft in diesem Land.
Ich habe zahlreiche Gespräche mit illegalen Einwanderern geführt. Sie haben mir erzählt von den Umständen ihrer Fahrt über die Meerenge von Gibraltar; auch von den Bedingungen, unter denen sie als Schwarzarbeiter gehandelt werden, welche den Hintergrund für den Dialog zwischen Hassan und Guillem bilden.

Warum haben Sie als Figuren gerade marokkanische Berber gewählt und nicht beispielsweise Schwarzafrikaner?
Grundsätzlich hätte ich genauso gut über Schwarzafrikaner schreiben können. Aber Marokko kenne ich sehr gut von meinen Reisen. Und Aït Ben Haddou, die Kasbah, wo ich mehrmals war und wo "Lawrence von Arabien" gedreht wurde, bot mir den realen historischen Hintergrund, um das Thema des Films einzuführen. Außerdem hat mir diese Entscheidung erlaubt -und das ist ganz wichtig- vom Rassismus Aixas zu sprechen. Wir erleben sie im Stück einerseits als "Opfer", aber eben auch als "Henker", in ihren rassistischen Äußerungen über die Schwarzafrikaner. Alles eine Frage der Perspektive ...

Nicht nur Immigranten wie Aixa erleben einen kulturellen Konflikt. Auch Guillem scheint zerrissen: Einerseits fühlt er sich stark zu Aixa hingezogen, anderseits versucht er seine kulturelle Identität als Katalane, einer ehemals unterdrückten Minderheit innerhalb Spaniens, zu schützen. Dadurch ist der Konflikt zwischen den Kulturen in VERSUCHUNG noch mal verschärft. Was bedeutet die Wahrung der kulturellen Identität für einen Katalanen?
Wir Katalanen befinden uns in einer widersprüchlichen Situation: Ausgehend von einer liberalen, und damit meine ich, von einer nicht-konservativen, nicht-reaktionären Position, wissen wir natürlich, dass jeder Fundamentalismus, der sich auf "Identität" bezieht, gefährlich ist. Andererseits aber sind wir aufgewachsen im Bemühen, eine Identität wiederzugewinnen, die uns im Frankismus verweigert wurde.
Aus derselben liberalen Position heraus haben wir auch den Reiz und die Vorteile der kulturellen Vermischung, der Inter- oder Multikulturalität kennen gelernt, sehen aber gleichzeitig durch diese neue Erfahrung das gefährdet, wofür wir schon so lange kämpfen.
Sie sprechen in Ihrer Frage von den Katalanen als einer "ehemals unterdrückten Minderheit".
Natürlich, im Frankismus wurde jede Äußerung katalanischer Sprache und Kultur brutal unterdrückt, aber ein Großteil der Katalanen lebt auch heute noch in dem Bewusstsein, unterdrückt zu sein. Wir haben eine autonome Regierung, aber immer noch keine Selbstbestimmung: letztlich entscheidet über Fragen wirtschaftlicher, bildungspolitischer, sprachlicher Natur immer noch die Zentralregierung in Madrid; und die will ein uniformes, kastilisches, nicht ein plurales Spanien.

In VERSUCHUNG ist nichts so, wie es zunächst erscheint. Meint man die Beweggründe einer Figur verstanden zu haben, merkt man im nächsten Moment, dass alles ganz anders war. Man befindet sich als Leser bzw. Zuschauer in einem permanenten Wechselbad von Sympathie und Abscheu. Sie arbeiten mit einer fast kriminologischen Struktur über Verdachtsmomente. Was versuchen Sie damit zu bewirken?
Zunächst einmal, vom Anfang bis zum Ende die Spannung zu halten. Das "Wechselbad von Sympathie und Abscheu", wie Sie es sehr treffend bezeichnen, habe ich herausgearbeitet, um den Zuschauer die Relativität der Standpunkte erleben zu lassen, die Relativität der Urteile über Personen, über Handlungen, über Ideen. Nichts ist einfach und eindeutig ...

In VERSUCHUNG überwiegen die Monologe gegenüber den Dialogen.
Ich glaube, bei einem Monolog geht das Publikum zunächst einmal davon aus, dass die Figur die Wahrheit sagt. Hier kann ich als Autor den Zuschauer überraschen: Er erkennt, dass er sich auf überhaupt nichts verlassen kann. Und dann ist da das Thema der verhinderten Kommunikation, der Nicht-Kommunikation: Die Figuren können sich die Dinge nicht ins Gesicht sagen, sie brauchen dazu die Kamera, und das führt zu Missverständnissen und Aggressionen. "Versuchung"ist im Grunde ein Stück über das Missverständnis.
Und schließlich war es für mich eine dramaturgische Herausforderung, mit einer Reihe von Monologen eine spannende Struktur zu schaffen.

Warum ist die Ebene des Films so stark in VERSUCHUNG?
Die Figuren in "Versuchung" fürchten den direkten Dialog, sie weichen ihm aus und verstecken sich hinter den schönen Trugbildern des Films.
Wir delegieren in unserer Gesellschaft das Leben ja oft ans Kino, wir leben über den Film, bzw. die Filmfiguren leben für uns: wir verlieben uns wie sie, wir reisen wie sie, wir verinnerlichen Haltungen und Werte, die wir aus den Filmen kennen. Etwas hochtrabend gesagt, ginge es also um die Unfähigkeit des zeitgenössischen Menschen, seine eigene Realität zu leben. Aixa muss sich als Filmfigur fühlen, um ihr Geständnis zu machen. Und Guillem will - wie sein Vater - Kino machen und macht sein Leben zu einem Film.
Und dann steht das Stück als Ganzes ja auch noch in einem filmischen Rahmen: Ist die ganze Tragödie letztlich nur inszeniert? Alles nur Film? Reine Fiktion?

(Carles Batlle im Gespräch mit der Dramaturgin Anna Haas. Tübingen, 2005) (Deutsch von Thomas Sauerteig)