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Olga Xirinacs

Deutsch [Konzert in Maida Vale]

Julie schloss die Tür und sprang vom Boot auf den schmalen, vergitterten Gehweg. Entlang des Gehwegs hingen Blumenkisten mit Petunien und im Gitter befand sich ein kleines Tor, durch das die Bewohner der Hausboote hinaus und hinein gingen. Das Gitter war hoch und schwarz gestrichen, und zu dem Zeitpunkt, um zehn Uhr morgens, befeuchtete feiner Nieselregen das Eisen und das Haar Julies.

Umsichtig trug sie das Violoncello in seinem Kunststoffkoffer, voluminös wie ein Sarg. Sobald sie das Gittertor mit dem Vorhängeschloss versperrt hatte, hängte sie sich das Cello über die Schulter und überquerte die kleine Brücke des Regent's Canal, um die U-Bahn in Warwick zu nehmen.

Julie ging langsam und ließ ihre Augen den Kanal entlang gleiten, wo die aneinander gereihten Boote zu jener Stunde noch keine Lebenszeichen von sich gaben. An Bord gab es aber Fahrräder und prächtige Blumen, und durch die offenen Fenster sah man Korbsessel, Reihen von Büchern, Keramiksammlungen und winzige Küchen mit zum Trocknen aufgehängten Geschirrtüchern.

Sie lebte gerne in Maida Vale. Die Nacht wiegte sanft ihre Träume auf dem ruhigen Wasser, die Ulmen auf beiden Seiten schufen mit ihren graugrünen Schatten ein Refugium. Dieses Refugium hatte sie auf Anhieb gemietet. Das Boot hieß Onyx und in den zwei Schiffsreihen war es das zweite am rechten Ufer Richtung Warwick hinauf. Sie verbrachte den ersten Herbst dort und verspürte jene leise Melancholie, die sich mit den fallenden Blättern und der Kälte ankündenden Luft der letzten Septembertage einstellt. Im Inneren der Onyx, einer schlichten, schwimmenden, weiß und marineblau gestrichenen Holzkonstruktion, fühlte sich Julie sicher.

Als Julie hinter der Brücke verschwunden war ging der Mann mit der schwarzen Windjacke zum Gittertor, öffnete es mit einem Dietrich und sprang an Bord der Onyx. Mit geschmeidigen, katzenartigen Bewegungen betrat er das kleine Esszimmer mit Spitzenvorhängen, einem Regal voller Partituren und einem Pult. Julie übte dort und er hatte sie an vielen Abenden vom Schatten unter Brücke aus betrachtet. Er konnte den Lichtreflexen auf Julies blondem Haar und auf ihren beim Cellospiel so gewandten Fingern nicht widerstehen. Sie war ganz und gar Empfinden und Leichtigkeit, und er begriff, dass sie ein Engel sein musste, denn etwas anderes konnte Julie nicht sein. Aber einen Engel berühren... Wie mochte es wohl sein, einen Engel zu berühren? Würde er sich in den Händen auflösen? Würde der Schimmer aus Augen und Haar weichen? Dieser Wunsch war zur Obsession geworden, und am letzten Septembertag beschloss er, seinen Engel zu berühren.

Als Versteck wählte er eine Kammer voller Kleidungsstücke und Kisten. Da Julie noch lange ausbleiben würde, hatte der Mann Zeit, um Schubladen und Schränke zu durchwühlen und sich ein Butterbrot zu schmieren bis er schließlich das Klacken vom Vorhängeschloss und der Tür hörte. Es war gerade vier Uhr, als Julie ihr Cello abstellte, ihre Schuhe abstreifte und das Kleid, das sie trug, gegen ein langes und weißes mit einem gelb bestickten Gilet, das sie sehr mochte. Sie drehte sich ein paar Mal mit Tanzschritten im Zimmer und das Kleid schwebte hinter ihr her. Da der Himmel schon dunkel war, machte sie Licht, begann zu spielen und die ersten tiefen Töne einer Ballade vibrierten in der Luft.

Der heimliche Beobachter näherte sich ihr von hinten und umfasste kraftvoll die schmale Taille Julies, die vom Stuhl aufsprang ohne den Bogen oder das Cello loszulassen. Der Mann stieß den Stuhl mit einem Fußtritt weg und legte seine Hand auf Julies Brust, um ihr Herz zu spüren. Sie konnte ihn nicht sehen, weil er sie von hinten umklammerte. Sie schrie nicht, nur ihre Hände wurden weiß von der Kraft mit der sie den Bogen und das Cello festhielt.

Der Mann stellte fest, dass der Körper des Engels sich nicht auflöste, dass er ein Herz besaß und dieses Herz in einem wunderschönen steckte, den er nach und nach abtastete, prüfend und sondierend wie ein Musiker die Beschaffenheit und Bespannung eines Instruments. Die Bewegungen hallten im Inneren des Violoncellos mit einem seltsamen Klopfen wider. Alles zusammen ließ ein heftiges Gefühl in ihm aufsteigen, das keuchend an Julies Nacken zerbarst.

Julie schwieg, reglos an ihr Cello geklammert. Nach und nach änderte sich ihre Wahrnehmung. Von der Kälte des Schreckens geriet sie nun in die beklemmende Gewissheit: Sie wurde berührt, so berührt wie sie ihr Cello spielte. Jemand umarmte sie von hinten und drückte, zupfte, betastete ihren Körper, rieb sich an ihm. Alles schweigend. Nur Wind und Wasser ließen hin und wieder das Holz des Boots knarren, und im kleinen Esszimmer beleuchtete ein seidener Lampenschirm eine stumme Partitur.

Plötzlich löste sich der Mann von Julie und lief eilends davon. Als er vom Boot auf den Gehweg sprang, schwankte die Onyx leicht. Danach hörte Julie das Gittertor zuschlagen und schließlich den Wind, der das eine oder andere welke Blatt auf das Schiffdach fallen ließ. Sonst nichts.

Ohne das Cello loszulassen schaltete Julie das Licht aus und schloss die Tür ab. Danach drehte sie das Cello, umarmte es von vorne und fing zu weinen an. Durch die Berührung ihres Körpers begannen die Saiten zu klingen.


Aus dem Katalanischen übersetzt von Theres Moser ©


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